Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.

Gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

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„Antibürokratische Revolution“ 1987-89

Neues Deutschland

Überschrift

„Sind wir schuld oder die Funktionäre?“: Die wirtschaftliche Situation scheint nicht mehr beherrschbar. Die Inflation überschlägt sich. Wie zwei Seiten einer Medaille ist die politische Krise damit verbunden. Die Unzufriedenheit der Menschen richtet sich gegen die eigene Führung. Forderungen nach Veränderungen werden immer lauter.
In dieser Situation fällt die Akzeptanz eines „starken Mannes“ leicht.
(Quelle: Net.Film)

Slobodan Miloševićs, Februar 1989 | Quelle: ČTKIn die Dynamik des nationalistischen Widerstreits und der weitverbreiteten Unzufriedenheit hinein betritt Slobodan Miloševićs die politische Bühne in Serbien. Ab 1984 KP-Chef von Belgrad und seit 1986 serbischer Parteichef wird er 1987 unfreiwillig zum Volkstribun und springt auf den nationalistischen Zug auf.

 

„Wie können Sie es zulassen, dass gegen dieses Volk der Schlagstock erhoben wird?“: Im April 1987 verhandelt Miloševićs in Priština mit Kosovo-albanischen Politikern. Zu diesem Anlass findet eine Demonstration von Kosovo-Serben statt, die den nationalen Gefühlen Ausdruck gibt.
Die Demonstration wird von albanischen Polizisten gewaltsam aufgelöst. (Quelle: Net.Film)

In dieser Situation stellt sich Miloševićs vor die aufgebrachte Menge und ruft:

„Niemand darf euch schlagen!“

Diesem wohl eher beschwichtigend gemeinten Satz wird in der Folge eine symbolische Überhöhung beigemessen und die Kosovo-Serben interpretieren darin ein nationales Fanal:

„Niemand darf UNS SERBEN schlagen!“

Die nationalistische Hysterie hat jetzt ihren „Führer“ gefunden.

In dieser aufgeheizten Atmosphäre verbindet Miloševićs die nationale Rhetorik mit stalinistischen Kampfbegriffen: Was im Kosovo geschieht ist „Konterrevolution“! Für Parteikreise bedient er damit die Sehnsucht nach dem revolutionären „Titoismus“ und der Einheit der Partei. Auf einer Sitzung der serbischen KP im September 1987 „putscht“ er sich als „neuer Tito“ mit seinen Gefolgsleuten an die Spitze der serbischen Politik. Damit beginnt die „antibürokratische Revolution“. In der Folge gelingt es Miloševićs die überregionalen serbischen Medien durch Personalveränderungen gleichzuschalten.

Durch Populismus zur Manipulation

gleichschaltung
„Politika“ und „Politika Express“ gehören zu den einflussreichen, überregionalen (serbischen) Tageszeitungen. Darin äußert sich nun der „Volkswille“ | Quelle: Net.Film, ABL

Miloševićs‘ Ziel ist die Stärkung Serbiens in der Machtbalance zwischen den jugoslawischen Republiken durch entsprechende Verfassungsänderungen. Die „antibürokratische Revolution“ soll daher nicht etwa bürokratische Strukturen abbauen. Vielmehr zielt die „Bürokratie“ als Kampfbegriff auf politische Kader in den Provinzen, die den Status Quo (Gleichberechtigung) in Serbien aufrechterhalten wollen. In dem Moment, wo diese daran festhalten, hätten sie, so Miloševićs, die Bindung zum (serbischen) Volk verloren.

Meeting in Priština | Quelle: net-filmZunächst sollen die Führungspositionen der beiden autonomen Provinzen innerhalb Serbiens durch den „Volkswillen“ mit Anhängern von Miloševićs besetzt werden. Der Souverän ist aber nicht mehr laut kommunistischer Ideologie die „Arbeiterklasse“ sondern die Ethnie „Volk“.

 

Meeting in Priština | Quelle: net-filmSeit Mitte 1988 beginnt in Serbien eine Welle von bestellten Demonstrationen, sogenannten „Meetings“, die Ausdruck des spontanen „Volkswillens“ sein sollen. Dahinter steht ein eigens errichtetes Organisationskomitee, dass bis zum Frühjahr 1989 ca. 100 „Meetings“ organisiert. Die Teilnehmer werden kostenfrei mit Bussen zu den Veranstaltungen gefahren und werden verpflegt. Die serbische Propaganda in den Massenmedien leistet ihr übriges, um die betreffenden Politiker zum Rücktritt zu zwingen. Damit wird der Platz frei für Miloševićs‘ Parteigänger.

Zuerst „fällt“ am 6. Oktober 1988 die autonome Provinz Vojvodina. Bevor man sich an das schwer zu erobernde Kosovo macht, soll die den Serben traditionell verbundene Regierung der Republik Montenegro „wegdemonstriert“ werden. Einzig Slowenien und die Bundespartei protestieren, denn jetzt rüttelt Serbien unmittelbar an den Grundfesten des Staates. Lange hat sich Montenegro gesträubt, doch am 11.1.1989 hat Miloševićs auch diese „Schlacht“ geschlagen.

Neues Deutschland 8./9.10.1988 Neues Deutschland 15./16.10.1988
Neues Deutschland 8./9.10.1988 Neues Deutschland 15./16.10.1988

„Sie haben das Volk verraten!“: Bleibt der Kosovo. Hier kann Miloševićs sein Ziel nur mit Gewalt, Verhaftungen und Einschüchterung durchsetzen. Über den Kosovo wird der Ausnahmezustand verhängt. Es gibt Tote.
Den Rückhalt und die Legitimation liefern Miloševićs die „Meetings“ in Serbien.

KoS.O.S.ovo (Quelle: Net.Film)

Die verunsicherten Parlamente der Vojvodina und des Kosovo stimmen am 23. März 1989 einer serbischen Verfassungsänderung zu. Damit geben die beiden Provinzen ihren Autonomie-Status auf.

 

„Slowenisches Frühling“

Quelle: ČTKEtwa zur gleichen Zeit wie Miloševićs in Belgrad wird Milan Kučan 1986 Parteichef der slowenischen KP. Auch er verhält sich zunächst sowohl dem Bund als auch den nationalen Vorstellungen und Forderungen innerhalb der slowenischen Gesellschaft gegenüber loyal. Doch mit dem Ausbruch des „Slowenischen Frühlings“ 1988 wird er zum Gegenspieler der serbischen Politik.

Ähnlich wie beim „kroatischen Frühling“ 1971 oder der „antibürokratischen Revolution“ setzten zunächst Intellektuelle die ersten Zeichen. Bereits 1987 wird ein „slowenisches Nationalprogramm“ verfasst, dessen Grundtenor ist: Wenn Slowenien innerhalb Jugoslawiens keine Entwicklungsmöglichkeiten (Marktwirtschaft, Demokratie, Zivilgesellschaft) hat, dann solle die Republik unabhängig werden. Diese Provokation und die darauf folgende heftige Debatte in Jugoslawien bilden das Vorspiel für die Massenproteste des Jahres 1988, dem sogenannten „slowenischen Frühling“.

 

Quelle: net-filmDen unmittelbaren Anlass bildet ein Artikel in der slowenischen Jugendzeitschrift „Mladina“, der, bevor er erscheinen kann, verboten wird. Das vom sozialistischen Jugendverband Sloweniens herausgegebene Wochenblatt war jahrelang parteitreu und schreibt jetzt frech und witzig für sozial Schwache, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, gegen Personenkult, die Todesstrafe, Umweltverschmutzung und Atomkraftwerke. Unter dem Titel „Die Nacht der langen Messer“ soll am 10. Mai 1988 ein Artikel erscheinen, der investigativ die Planungen der jugoslawischen Volksarmee zur Niederschlagung der slowenischen Oppositionsbewegung beschreibt.

 

Vier der Zeitungsmacher werden wegen „Verrats von Militärgeheimnissen“ verhaftet und durch ein Militärgericht in nichtöffentlicher Verhandlung zu Haftstrafen verurteilt. Die slowenische Gerichtsbarkeit hat keinen Einfluss auf den Prozess und die Abhängigkeit vom ungeliebten Staat wird wiederrum deutlich. Es artikuliert sich eine breite Solidaritäts- und Protestwelle. Auf der Agenda stehen jetzt auch die Menschenrechte.
Kučan stellt sich immer offener auf die Seite des Protestes. Slowenien entfernt sich mehr und mehr von Rest-Jugoslawien und dem Miloševićs-Regime.

Europäisches Versagen - Jugoslawische Bürgerkriege

Die Wahrnehmung des kommunistischen Jugoslawiens wird von der Brutalität des verheerenden Bürgerkriegs in den 1990er Jahren überlagert und in der kollektiven Erinnerung idealisiert. In einem Exkurs soll daher die „Explosion“ Jugoslawiens in knappen Zügen nachvollzogen werden - ist sie doch gleichzeitig ein „Lehrstück“ für mögliche Folgen fehlender europäischer Integration.

Der dritte Weg – Alternativen zur SED-Herrschaft

In der Sowjetischen Besatzungszone gibt es 1946 durch den führenden Kommunisten Anton Ackermann programmatische Überlegungen über einen „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“. Darin spricht er sich gegen eine brachiale Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ wie in der Sowjetunion aus, denn man müsse die nationalen Gegebenheiten berücksichtigen.

Themenblock Jugoslawien

„Sag nein!“ – Kriegsdienstverweigerung in Slowenien und der DDR

Der unterschiedliche Erfahrungshorizont bringt nur wenig Berührungspunkte zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppen in Jugoslawien und der DDR. Mit der sich verschärfenden Krise in Jugoslawien in den 1980er Jahren werden Proteste in Slowenien, wo die Meinungsfreiheit noch am größten ist, immer mehr als Systemkritik interpretiert.


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