Die Themenblöcke zu Ungarn
Stalins Monument bröckelt und Ulbrichts Thron wackelt.
Auch in der DDR nähren der 20. Parteitag der KPdSU mit seiner Verurteilung Stalins sowie die Situation in Polen Hoffnungen auf eine neue Politik. Innerhalb der SED sorgen diese Offenbarungen für Unsicherheit.
Zögernd werden Stimmen von Intellektuellen nach einem demokratischen Sozialismus in der DDR laut.
Vorbilder dafür gibt es im ungarischen „Petöfi-Klub“:
Seit Mitte 1956 diskutieren marxistische Intellektuelle Probleme des Sozialismus in der DDR. In verschiedenen informellen Gruppen unterhält man Kontakte zu Mitgliedern des „Petöfi-Klubs“ in Ungarn. Aus dem Umfeld des „Aufbau-Verlages“ (Walter Janka) und der Wochenzeitung „Sonntag“ (Wolfgang Harich) entsteht die „Plattform für den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“. Harich fasst darin die Diskussionen zusammen.
Das Papier wird in SED-Kreisen verteilt. Es hat jedoch keine öffentliche oder politische Wirkung. Harich nimmt daraufhin Kontakt zum „Ostbüro der SPD“ auf, um eine Diskussion zu provozieren.
Walter Ulbricht: "Im Keim ersticken"
Ulbrichts Angst vor einem ostdeutschen „Petöfi-Kreis“
Nach der militärischen Niederschlagung der ungarischen Revolution sieht sich Ulbricht gestärkt, gegen die „Stalinismusdiskussion“ vorzugehen.
Quelle: Neues Deutschland, 30.12.1956
Ende November / Anfang Dezember werden Harich und Janka sowie Bernhard Steinberg, Manfred Hertwig, Gustav Just und Heinz Zöger verhaftet und vor Gericht gestellt. Trotz der geringen Resonanz wird ihr Pamphlet als ein konterrevolutionärer Umsturzplan gewertet und der Autor Harich als ihr „Anführer“ ausgemacht. Der „Gruppe“ wird eine staatsfeindliche Absicht unterstellt, die es so nie gegeben hat.
Alle Angeklagten werden zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.
Losungen auf Flugblättern aus der Humboldt-Universität Berlin im Oktober / November 1956 | Quelle: Bundesarchiv, BStU
Ähnlich wie in Ungarn gibt es das größte Unruhepotenzial an den Hochschulen und Universitäten. In einigen Betrieben kommt es sogar zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen.
Die angespannte Lage in der DDR lässt die SED einen „zweiten 17. Juni“ befürchten.
Dementsprechend inszeniert die Staatspartei eine Kampagne der Volksverbundenheit. Hohe Parteifunktionäre gehen in Betriebe und demonstrieren Einigkeit mit den Problemen der Menschen.
Am 27.10.1956 findet zu Beginn des Abendprogramms ein Fernsehgespräch zwischen Regierungschef Otto Grotewohl (3.v.l.), Parteichef Walter Ulbricht (3.v.r.) und Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler (r.) mit Berliner Arbeitern statt. | Quelle: Bundesarchiv
Walter Ulbricht: „Regierungswechsel – nur weil es Mode ist – machen wir nicht mit.“
Grotewohl behauptet in diesem „Gespräch“, dass es in der DDR keine politischen Gefangenen gäbe und Ulbricht „fühle und denke“ wie ein Arbeiter, weil er auch mal einer war.
(Quelle: Neues Deutschland, 28.10.1956)
Ansgar Müller: „Wir haben gebangt und gehofft und waren verzweifelt.“
Als Student in Halle erlebt Ansgar Müller die Ereignisse in Ungarn. Eine Auseinandersetzung innerhalb der Studentenschaft findet hier jedoch nicht statt. (Quelle: ABL)
Der Ausdruck „Gulaschkommunismus“ geht auf Nikita Chruschtschow zurück und meint die Aufhebung der Stalin-Doktrin vom Primat der Schwer- und Stahlindustrie in der sozialistischen Wirtschaftpolitik. Aus den Ereignissen von 1956 gewinnt Kádár die Erkenntnis, die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung stärker zu befriedigen.
Nach den Wirtschaftsreformen von 1968 bedienen sich westliche Medien dieses Begriffes, um den ungarischen Sonderweg zu klassifizieren.
In den 1980er Jahren werden Budapest und der Balaton für den gesamten Ostblock zum „bunten Schaufenster“. Hier erlebt man westliche Kauflandschaften. Hier trifft man sich mit westdeutschen Freunden und Verwandten.
Mit der Öffnung Ungarns etabliert sich auch eine westliche Lebensart.
1986 kommt gar die „Königsklasse“ des Kapitalismus hinter den „Eisernen Vorhang“. Der Formel 1-Zirkus wird für den Osten auf dem Hungaroring erlebbar – wenn auch kaum bezahlbar.
Die Einreise nach Ungarn ist nicht ganz komplikationslos. 4 bis 6 Wochen vorher muss bei der Volkspolizei eine Art Visum beantragt werden. Die Eintrittskarte nach Ungarn (auch für Rumänien und Bulgarien) ist die „Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr“ in Verbindung mit dem Personalausweis.
Der Staat regelt auch die Ausstattung mit “Reisezahlungsmitteln”. Nach einem Beschluss des Ministerrats der DDR von 1986 ist die Höhe festgelegt. Insgesamt dürfen nicht mehr als 2650 Forint im Jahr getauscht werden. Der Tagessatz von 31 DDR-Mark verteilt sich damit auf 14 Tage. Das Preisniveau in Ungarn ist dabei um einiges höher als in der DDR.
Den Forint-Bedarf versucht die DDR-Regierung, durch das einmalige Tauschen mittels dieser Berechtigungsscheine oder einer Zollerklärung um weitere 100 DDR-Mark zu entspannen.
Im sozialistischen Ausland legt man bei aller „Brüderlichkeit“ auf das Geld der DDR-Touristen nicht viel wert. |
Bei derart knappen Urlaubskassen ist man bemüht, die Unterhaltskosten (Lebensmittel, Unterkunft, Benzin) so knapp wie möglich zu halten. Das Geld wird für „wichtigere“ Dinge benötigt.
Schallplatten aus Ungarn | Quelle: ABL
Im Budapester Stadtplan markierter Schallplattenladen, 1982 | Quelle: ABL
Musik ist ein systemunabhängiges Element der Sozialisierung. Durch Verbot und Mangel wird dieser Prozess in der DDR-Gesellschaft für Jugendliche noch dominanter. Mit Musik rebelliert man nicht nur gegen die Eltern-Generation sondern auch gegen den Staat.
„Rockmusik avancierte für viele zum Symbol für ‚Freiheit‘, ‚Widerstand‘ und ‚Anderssein‘“. (Michael Rauhut: Rock in der DDR)
In Ungarn kann man diese Bedürfnisse ansatzweise befriedigen und ist bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen.
500 Forint entsprechen ca. 83 DDR-Mark. Der Durchschnittsverdienst liegt bei etwa 600 bis 800 Mark.
Besonders bei Jugendlichen ist das Reisen per Anhalter verbreitet. Sie erobern sich die „kleine weite Welt“ auf eigene Faust und unabhängig vom staatlich gelenkten Tourismus.
Jens Eßbach: “Wir haben generell im Freien geschlafen“
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Der ungarische Essayist und Schriftsteller György Konrád fordert 1984 in seinem Buch „Antipolitika“ eine geistig-politische Neuorientierung, um der Kriegsgefahr im hochgerüsteten Europa zu begegnen. Hauptursache dieser Bedrohung seien die Abkommen der Siegermächte des II. Weltkrieges in Jalta vom Februar 1945 und der damit verbundenen Aufteilung Europas:
Bild: György Konrád, Budapest 1989 | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution, Open Society Archive Budapest
„Jalta ist das Symbol einer Großmachtpolitik: Drei alte Männer [Churchill, Roosevelt, Stalin] entscheiden für Jahrzehnte über das Schicksal von hundert Millionen Menschen, und die hundert Millionen müssen diese Übereinkunft respektieren, sonst wird auf sie geschossen … Jalta heißt, die andere Seite dämonisieren.“ |
Überblick Antipolitika | Quelle: ABL
Gerade für DDR-Oppositionelle wirken diese Thesen inspirierend, existiert die DDR doch nur auf dieser Grundlage der Blockkonfrontation. Seit Ende der 1970er Jahre gibt es Kontakte nach Ungarn. Die Staatssicherheit beider Länder vereinbaren eine Zusammenarbeit (1978) und versuchen Treffen durch Einreisesperren zu verhindern. Ungarische Exilanten und Dissidenten (u.a. György Konrád und György Dalos) können nicht mehr in die DDR kommen und umgekehrt werden DDR-Oppositionelle mit Ausreiseverboten belegt (seit 1985 mind. 200 Personen).
„Budapest, Prag, Warschau, Berlin – Oktober 1986“
Aus Anlass des 30. Jahrestages der Niederschlagung der Ungarischen Revolution von 1956 bekräftigen Oppositionelle ihre Zusammenarbeit auf internationaler Ebene. (Quelle: ABL)
Anregungen für die DDR-Opposition liefert der im Wiener Exil lebende Schriftsteller György Dalos. Als Kenner reflektiert er die Szene „ […] sozusagen als Blick über den Topfrand in den Topf.“ (Ostkreuz, Januar 1989)
György Dalos: „Ich wollte in die DDR“ |
Korrespondierend mit Konrads „Antipolitik“ bildet sich 1986 im Umfeld der Berliner Bartholomäus-Kirchgemeinde eine Gruppe heraus, die dieser Ost-West-Konfrontation als auch den Erscheinungen der Abgrenzung / Ausgrenzung in der Gesellschaft der DDR begegnen will. Die Initiative „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ verbreitet ihr Thesenpapier als Antrag an die Synode der evangelischen Kirche zur Beschlussfassung. Die Synode stellt das Papier sowohl ihren Ausschüssen als auch den Gemeinden zur Diskussion.
Zu einer Veröffentlichung kommt es in verschiedenen Zeitschriften des Untergrunds.
„Isolation bildet den Nährboden für Zerr- und Feindbilder.“
Die Forderungen nach Pluralismus und Reisefreiheit werden in einen europäischen Kontext gestellt. Nur in der Umgehung der sensiblen deutschen Frage sind sie vermittelbar.
Zu den Autoren gehören u.a. Hans-Jürgen Fischbeck, Ludwig Mehlhorn und Stephan Bickardt. (Quelle: ABL)
Der Initiativkreis trifft sich u.a. in privaten Räumen, Berlin 1986/87 - Stephan Bickhardt (l.), Michael Bartoszek (von hinten), Ludwig Mehlhorn (r.) | Quelle: ABL / St. Bickhardt
Stephan Bickhardt: „Es kam zu einer ganz ernsten Krise im Staat-Kirchen-Verhältnis.“
Wenn die evangelische Kirche dieses Papier als Leitbild annehme, so entziehe sich dem SED-Staat die Diskussionsgrundlage mit ihr. Die SED kann und will den Status Quo nicht hinterfragen und reagiert mit Ab- und Ausgrenzung. (Quelle: ABL)
Lebenslauf Stephan Bickhardt
Die Negierung der europäischen Dimension der Gegenwart durch die SED führt früher oder später zwangsläufig zur Systemopposition. Einen weiteren Schritt in diese Richtung geht die Initiativgruppe mit dem Versuch, zur Kommunalwahl am 7. Mai 1989 eigene Kandidaten aufzustellen.
Ab Mai 1988 wird die Flugschrift „Neues Handeln“ in einer Auflage von ca. 20.000 Stück verbreitet. Darin wird das Procedere zur Wahleinmischung im Jahr darauf erklärt. Der diktatorische Herrschaftsanspruch der SED lässt jedoch neue parlamentarische Konstellationen nicht zu.
Im Zusammenhang mit der Kommunalwahl 1989 in der DDR entsteht eine landesweite Demokratiebewegung, die die Stimmenauszählung kontrolliert und die SED der Manipulation überführt. Diese neue Kraft ist im Frühjahr 1989 noch weitgehend zersplittert. Zu DDR-weiten Strukturen kommt es erst im September 1989.
Drei Tage nach dem NEUEN FORUM verkündet der Initiativkreis zur „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ am 12.9.1989 die Gründung von DEMOKRATIE JETZT. Aus der Systemopposition wird eine Bürgerbewegung.
„Die Ära des Staatssozialismus geht zu Ende.“
Die Initiatoren rufen zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft auf. In einem breiten Dialog will man über Konzepte beraten und damit die SED zur Machtteilung zwingen.
Das Wochenblatt will den deutschsprachigen Raum mit Themen der ungarischen Gesellschaft vertraut machen. Es erscheint seit 1967. Durch die minimale und selektive Berichterstattung der DDR-Medien über die politischen Neuerungen in Ungarn 1988/89 ist das Interesse in der DDR groß. In der „Budapester Rundschau“ bekommt man einen Eindruck über den ungarischen Anspruch zur Schaffung einer Pressefreiheit – ohne Tabus bei Meinungsäußerungen.
Aus dem Inhalt der Ausgabe vom 20. Juni 1988 | Quelle: ABL
1989 gibt es in der DDR 5.000 Abonnenten bei einer Gesamtauflage von 15.000 Exemplaren. Die Redaktion könnte aber ohne weiteres mehr Zeitungen verschicken. Doch im Juni 1989 nehmen die DDR-Postämter keine neuen Bestellungen mehr an. Die Verteilung über Bibliotheken oder der Freiverkauf an Zeitungskiosken wird gestoppt. Im Gegensatz zum Sputnik-Verbot vom November 1988 wird die „Budapester Rundschau“ jedoch nicht von der offiziellen Vertriebsliste der Deutschen Post gestrichen. Man hat scheinbar etwas von der Welle des Protestes des Vorjahres gelernt.
Die wenigen vorhandenen Exemplare werden von Hand zu Hand weitergereicht.
„Es dürfen sich persönliche und Gruppeninteressen den Spielregeln der Demokratie entsprechend frei organisieren.“
Der „Verband Junger Demokraten“ - Fidesz gründet sich am 30. März 1988. Er versteht sich als unabhängiger Jugendverband neben der Staatsjugend KISZ. (Quelle: ABL)
Aufsehen erregt der Sprecher von Fidesz, Victor Orbán, auf der Großkundgebung zur Umbettung von Imre Nagy und anderen Hingerichteten von 1956 am 16. Juni 1989. Vor ca. 300.000 Menschen verurteilt er die auf historischen Ausgleich setzende KP-Führung als Anbiederung. Er fordert freie Wahlen und den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn.
Bild: Victor Orbán | Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Fidesz unterhält gute Kontakte zu freien Gruppen in Polen und der ČSSR. Eine konstruktive Vernetzung mit der DDR scheitert jedoch immer wieder an Reiseverboten.
Radio Glasnost: „Für die Mitglieder des Netzwerkes ‚Arche‘ war es nicht einfach an diesem Meeting teilzunehmen.“ |
Das politische Bewusstsein für internationale Prozesse und eine internationale Vernetzung ist in Ungarn stark ausgeprägt. Fidesz organisiert 1989 z.B. mehrere Demonstrationen, die auf die Unterdrückung in anderen sozialistischen Staaten aufmerksam machen.
In diesem Kontext inszeniert Fidesz am 13. August 1989 den „Fall“ der Berliner Mauer in Budapest.
Fidesz inszeniert am 13. August 1989 den Fall der Berliner Mauer in Budapest. | Quelle: BStU
„Letztendlich könnt ihr aber eure Herrschenden nur im eigenen Land bekämpfen.“
Eine Menschenkette symbolisiert mit ihren Pappschildern die Berliner Mauer, die nach der Kundgebung mit Redebeiträgen aus Ungarn, Polen, Großbritannien und der DDR in tausend kleine Stücke „zerrissen“ wird. Bedauernd stellt der Sprecher der Leipziger Opposition fest, dass der Ort ja eigentlich falsch gewählt sei, aber ein derartiger Protest in der DDR z.Zt. eben nicht möglich ist. (Der Bericht erschien in „Forum für Kirche und Menschenrechte“, September 1989)
Ungarn beginnt am 2. Mai 1989, seine Grenze nach Österreich abzubauen. Am 12. Juni wird der ungarische Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention rechtswirksam. Demnach ist es untersagt, Flüchtlinge in den Staat zurückzuschicken, aus dem sie geflohen sind.
Gilt das auch für Flüchtlinge aus der DDR?
Staatssicherheit: „Das ist Verrat!“
Die Mitarbeiter der Staatssicherheit werden auf die veränderten Realitäten „eingeschossen“, denn keiner verlässt die Grundlagen des Sozialismus „ungestraft“.
Die ungarische Seite versichert der besorgt anfragenden Staatssicherheit, dass diese Regelung für DDR-Bürger nicht gelte. Das bedeutet, dass Flüchtlinge weiterhin der Stasi in der DDR überstellt werden können und als „Republikflüchtlinge“ gelten.
Der Straftatbestand heißt „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ und kann mit Gefängnis bis zu zwei Jahren geahndet werden. Das Risiko, dass der Einzelne eingeht, ist nachwievor hoch.
Die Sommerferien beginnen am 1. Juli. Am 13. August schließt die westdeutsche Botschaft in Budapest wegen Überfüllung.
Keiner weiß, was passieren wird. Ein Gerücht jagt das andere. Bekommen wir ein Ausreisevisum? Wird an der Grenze geschossen? Schauen die Grenzer weg oder verhaften sie uns? (Quelle: ABL)
Von Tag zu Tag kommen immer mehr. Für Ungarn entsteht ein humanitäres Problem. In dieser Situation bietet die UNO ihre Hilfe an.
„Das UN-Flüchtlingshilfswerk ist bereit, mit allen Beteiligten das Problem zu diskutieren.“
Mit dem Hilfsangebot vom 26. Juli zu vermitteln, wird die Fluchtwelle noch stärker internationalisiert. Die DDR-Führung gerät immer mehr in Erklärungsnöte. (Quelle: Open Society Archive Budapest)
Der Malteser Hilfsdienst richtet Flüchtlingslager ein. Nicht selten erfahren die Menschen Unterstützung durch die ungarische Gastfreundschaft.
Bis zum 14. November werden von den Maltesern ca. 36.000 Flüchtlinge betreut.
Einzeln oder in kleinen Gruppen versuchen manche die Flucht bei Nacht über die „grüne Grenze“. Andere warten auf ihre offizielle Ausreise – alles Menschen, die nicht gewillt sind, wieder nach Hause zu fahren.
Am 24. August erhalten 108 Flüchtlinge aus der westdeutschen Botschaft die Ausreiseerlaubnis. Dies ist ein einmaliger humanitärer Akt der ungarischen Regierung.
Auf Initiative des „Ungarischen Demokratischen Forum“ (MDF) und des Präsidenten der Paneuropa-Union Otto von Habsburg findet am 19. August bei Sopron ein „Paneuropäisches Picknick“ statt. Es soll u.a. ein Zeichen zur Lösung des schwelenden Fluchtproblems gesetzt werden.
Unter dem Titel „Baue ab und nimm mit!“ kann sich jeder Teilnehmer am Abriss des „Eisernen Vorhangs“ beteiligen.
Punkt um drei Uhr stürmen etwa 150 DDR-Flüchtlinge das Grenztor, obwohl die Organisatoren noch gar nicht so weit sind. Den Medien zuliebe wird die Grenze für einige Minuten wieder geschlossen, um sie dann „offiziell“ zu öffnen. Stundenlang steht die Grenze offen. Etwa 900 DDR-Bürger nutzen das „Happening“ zur Flucht.
Quelle: Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution
Rainer Benedix: „Es war eigentlich Chaos.“
Ohne die Absicht, nach Österreich zu gehen, sind Regina Roth und Rainer Benedix einen Tag nach dem Picknick in Sopron. (Quelle: ABL)
Nach dem Durchbruch zeigt die ungarische Regierung „Härte“. Ertappte Flüchtlinge werden festgenommen. Bei einem Handgemenge fällt sogar ein tödlicher Schuss.
Gespräche des Außenminister Gyula Horn (rechts) mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer (links) | Quelle: Bundesarchiv
Der ungarische Außenminister Gyula Horn (rechts) reist in die DDR, um eine Lösung zu finden. Bei dem Gespräch mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer (links) macht dieser deutlich, dass die DDR nicht gewillt ist, die Flüchtlinge ziehen zu lassen.
„Gesetze der DDR gelten für alle ihre Bürger.“
Der ungarischen Regierung droht, ihr neues liberales Gesicht zu verlieren, wenn sie sich auf die harte Linie der SED einlässt. Ungarn signalisiert deshalb Anfang September, dass es nicht mehr gewillt ist, die Flüchtlinge festzuhalten.
Am 11. September öffnet Ungarn die Grenzen für alle DDR-Flüchtlinge. Bis Ende September kommen etwa 30.000 Menschen in die Bundesrepublik.
In Ungarn passiert der „Probelauf“ für den Sturz der Berliner Mauer zwei Monate später. |
Das was in Ungarn geschieht, sorgt in der DDR für eine große Verwirrung: Von der Stasi gesammelte Reaktionen der Bevölkerung:
Grafik, Quelle: BStU
Die Massenflucht über Ungarn bildet ein Katalysator und führt den Protest aus der Kirche auf die Straße. Am 4. September 1989 wird die mediale West-Öffentlichkeit durch die Leipziger Herbstmesse genutzt, um gegen den politischen Stillstand zu demonstrieren.
Oppositionelle und Ausreisewillige finden dabei eine Allianz, die nicht unumstritten ist.
Gleichzeitig verstärkt die Gruppe der Ausreisewilligen den Eindruck eines Massenprotestes. Diese Ambivalenz beschreibt Christoph Motzer. Letztendlich profitieren beide Gruppen voneinander. (Quelle: ABL)
Lebenslauf Christoph Motzer
„Nicht alle wollen in die Bundesrepublik.“
Vor den Augen westlicher Kameras reist die Stasi den Demonstranten die Transparente aus den Händen. Die Bilder gehen via Westfernsehen durch das ganze Land. (Quelle: Kontraste)
Eine Woche später, jetzt ohne mediale Öffentlichkeit, rächt sich die Stasi und verhaftet die Initiatoren.
Mit dieser Demonstration beginnt die Tradition der „Montagsdemonstrationen“, die maßgeblich zum Sturz der SED beitragen.
Staatssicherheit: "Gewinnung von Personen für eine Öffentlichkeitsarbeit"
Unter den Rückkehrern aus Österreich und der Bundesrepublik sucht die Stasi Personen, die sie für Propagandazwecke der SED benutzen kann. Quelle: BStU
Am 21. September 1989 veröffentlicht das „Neue Deutschland“ eine „Räuberpistole“, die in der Mediengeschichte ihres Gleichen sucht:
Am 11. September sei Hartmut Ferworn, Koch der Mitropa - dem Serviceunternehmen der Deutschen Reichsbahn, bei seinem Aufenthalt in Budapest durch eine Mentholzigarette betäubt worden. Wieder aufgewacht, sitzt er in einem Reisebus zur westdeutschen Botschaft nach Wien. Ferworn behauptet in dem Interview, dass er von „kaltblütigen Menschenhändlern“ gekidnappt wurde, die damit dem Ansehen der DDR schaden wollen.
"Die Mentholzigarette schmeckte irgendwie komisch."
Das Interview beginnt unverblümt auf der Titelseite. Die reale Person Jens Wunsch „mit Leipziger Dialekt“ wird dabei gnadenlos diffamiert.
Dieser Artikel wird zur Lachnummer. Er zeigt aber auch, welches Bild die Führungsspitze der SED vom Volk hat. Man glaubt nachwievor, mit althergebrachten Feindbildern, die Probleme weiter verschweigen zu können. Diese Ignoranz heizt den Unmut der Massen jedoch weiter an.
Die Lügenstory hat ein Nachspiel. In der Auseinandersetzung mit der SED im Herbst 1989 wird der Artikel zum Symbol ihrer Unglaubwürdigkeit.
„Es ist unglaublich, wie wir als Bürger dieses Landes behandelt werden.“
Auf einer „Dialog“-Veranstaltung im Leipziger Kabarett „academixer“ am 28.10.1989 bemühen sich die Eltern des „Menschenhändlers“ Jens Wunsch um eine Rehabilitierung. Doch die Repräsentanten der Staatsmacht empfinden keine Mitverantwortung. (Quelle: ABL)
Auf Grund vieler Reaktionen sieht sich das „Neue Deutschland“ genötigt, das Thema noch einmal aufzugreifen. Dabei beruft man sich jeweils auf „höhere Gewalt“, denn auch das Zentralorgan der SED sei schließlich der „Kommandogewalt“ ausgeliefert gewesen.
„Wir müssen die Kritik mit dem heutigen Erkenntnisstand akzeptieren.“ | „Das ND übte keinerlei Druck auf den ‚Zeugen‘ aus.“ |
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